Das Höflichkeitstourette-Syndrom

Alles gut. Gar kein Thema. Sehr, sehr gerne… Sie können sie auch nicht mehr hören, die sprachlichen Helden unseres Alltags?

Manchmal scheint es, als würde sich alles nach einer Dramaturgie abspielen – im Leben, im Laden, im Business… manchmal sogar in Freundschaften.

Kennen Sie das: Sie erstarren innerlich und geraten in einen zerreissenden Gewissenskonflikt, weil sich Ihr Gegenüber über jemanden, den sie schätzen, abwertend äußert oder Sie politisch plump in Verlegenheit bringt?
Das nennt man verbale Nötigung. Eindeutig Übergriffig. Zum „Me too“-schreien. Aber man hält den Mund, weil man vor lauter antrainierter Höflichkeit (oder weil man dem Partner das Geschäft nicht versauen darf) verstummt. Immer hübsch Contenance bewahren, so hat man es gelernt – ich übrigens auch.

Wir pudern uns gegenseitig die Hintern. Wollen uns nicht weh tun. Geschäfte laufen glatt oder gar nicht. Freunde und Partner werden gewechselt, wenns mal heiß hergeht. Das Leben, eine hysterischgeile Marketingstrategie.

Woher kommt es, dass wir beschwichtigen und in Deckung gehen, sobald Gegenwind droht? Wer heute ungefiltert gerade raus ist, wird als naiv abgestempelt. Um sich und sein Tun schön darzustellen, verlernen wir mit Respekt und Stil dagegen zu sein, Disharmonie auszuhalten UND sich dabei elegant und konkret auszudrücken. Eine Hutschiguccigesellschaft, die zu anständig geworden ist, um verantwortungsbewusst Farbe zu bekennen.

Wo bleiben die Launen? Darf man nicht spontan seine Meinung ändern, zur Diskussion anregen, provozieren, austesten, sich spielerisch aneinander reiben, … ?
Eine sehr erfrischend freche Freundin wurde unlängst mit den Worten: „Musst du denn immer so radikal diskutieren“? gestoppt. Angeregte Gespräche sind eine Chance, geistig in Form zu bleiben. Diskussion bedeutet unterschiedliche Meinungen auszutauschen, sich vom anderen überzeugen zu lassen – oder eben nicht, neue Denkmuster mit seinen zu verstricken, Stellung zu beziehen, Perspektiven zu wechseln, …. „Wenn es um Bestätigung statt um Erkenntnis geht, erzielen wir eine geistige Kreislaufwirtschaft sozusagen.“ (Wolf Lotter/brand eins, 10.2018)

Schon mal erlebt: Sie nehmen Platz in einem der urbanen Hotspotrestaurants und werden behandelt, als hätten sie sich verirrt. Sie müssen sich quasi um die Höflichkeit der Bedienung anbiedern und trauen sich nicht aufzustehen und zu sagen: Sag mal gehts noch? ICH BIN HIER DER GAST!
„Mit dem ARSCH ins Gesicht!“, hat einmal eine Verlagskollegin vor versammelter Mannschaft in die Runde geworfen. Nach kurzem Vakuum folgte Austausch auf Augenhöhe.

Frech zu sein hat Konsequenzen. Wer brav ist, lebt unkompliziert und konventionell erfolgreicher. Das lernen wir schon früh im Leben. Vielleicht sollten wir uns weniger mit dem Ausbügeln von Eigenheiten in der Erziehung beschäftigen und dafür unkontrollierte, kindliche Frechheiten fördern. Weniger hopp-hopp-hopp… Mehr ich-bin-ich…
Wer an Privilegiertem rüttelt, bekommt Gegenwind. Nicht immer kann man sich dann davonmeditieren. Manchmal muss man es dem Gegenüber klar und deutlich machen. Im hier und jetzt. Weniger Realpolitik. Mehr Courage.

Aggressive Eitelkeit und unberechenbare Angstmacherei gilt für manche als Vorrecht für freie Meinungsäußerung. Traurig aber erfolgreich. Zum Glück dürfen wir zeitgleich erleben, dass Minderheiten und Künstler(innen) wie Christine and the Queens (heute Chris) die Welt mit großem Erfolg bunter machen. 

Authentische Lebendigkeit ist der Kraftstoff für Charisma – die wohl strahlendste Ausdrucksweise von Menschlichkeit.

Ich werde in Zukunft wieder darauf achten, frecher und unkontrollierter zu agieren. Besser verantwortungsbewusst vorlaut, als hübsch höflich!